Das Sommerbuch: Die genussmousse-Empfehlungen

Natürlich können wir nicht mir nichts, Dir nichts zu einer Empfehlungs-Rallye für Sommerbücher aufrufen und selbst nichts dazu beitragen. Hier deshalb nun also fünf Buchvorschläge, die wir Ihnen, geschätzte LeserInnenschaft, für ein paar angenehme Lesestunden in diesem Sommer ans Herz legen möchten.

Schöne Welt, böse Leut. Kindheit in Südtirol, Claus Gatterer, Folio 2003
gattererSprachlich grandios, kurzweilig und bis zur letzten Zeile spannend erzählt der ehemalige Doyen des österreichischen Qualitätsjournalismus von seiner Kindheit in Südtirol. Vom Bergbauerndorf Sexten, gelegen auf 1.300 Metern Seehöhe inmitten der bizarren Bergwelt der Dolomiten. Gatterer berichtet von bäuerlichen Traditionen. Vom Alltag der Menschen. Von einer Kindheit im Einfachen. Und davon, wie die Weltpolitik plötzlich hereinbricht in diese entlegene Welt. Er beschreibt, wie der italienische Faschismus durchgreift bis zum Dorflehrer. Erzählt von den kleinen Widerständigkeiten und von größeren. Aber auch von Kollaboration. Von Italienfreunden, Österreichtreuen und Großdeutschen. Und vom dem Riss, der mit der Anerkennung der Brennergrenze durch Hitler und der Aufforderung, für ein Verlassen der Heimat zu optieren, mitten durch die Südtiroler Gesellschaft ging. Wer sich für das bäuerliche Leben dieser Zeit interessiert, wer die Südtirolfrage verstehen will, dem sei dieses Buch dringend ans Herz gelegt!

Das Reich der Zeichen, Roland Barthes, edition suhrkamp 1981
barthesNicht neu, aber wunderschön: Roland Barthes' Japan-Aphorismen, Haikus (japanische, sehr knappe Poesieform), Bilder und Skizzen. Die Texte des französischen Semiologen interessieren sich für japanisches Kochen und Essen, für die Organisation von Stadt, für Musik, Glücksspiel, Architektur, Theater. Kurz: Für eine (kulturelle) Welt, die sich radikal von der unseren unterscheidet. Barthes nimmt seine Fremdheit im japanischen Zeichensystem als Ausgangspunkt für kurze, philosophierende, manchmal fragmentarisch anmutende Texte. Und liefert eine ganze Reihe von Antworten auf jene Frage, die auch Sophia Coppolas traumwandlerischer Japanfilm „Lost in Translation“ aufgeworfen hat: Was geschieht, wenn man sich in eine Welt geworfen wiederfindet, deren Symbolsystem sich dem eigenen Deutungshorizont komplett entzieht? Handschriftliche Anmerkungen, Skizzen und Fotos bilden die zweite, unverzichtbare Erzählebene des Buches. Und versetzen den/die LeserIn für kurze Momente in die Situation jener Fremdheit, die den Reisenden auf seinem Weg durch Japan umgibt. Der etwas andere Blick auf Nippon. Das erklärte Lieblingsbuch von frau genussmousse.

Chuzpe. Roman, Lily Brett, Suhrkamp 2006
brettLeichte, unterhaltsame Kost: Ruth Rothwax ist neurotisch, nervös und essgestört. Und sie ist die Tochter zweier Holocaustüberlebender. Lily Bretts Protagonistin in den besten Jahren lebt in New York und betreibt ein kleines Unternehmen, in dem sie Briefe für andere Menschen verfasst. Sie ist verheiratet, kümmert sich nach dem Tod ihrer Mutter sorgenvoll um ihren betagten Vater Edek und ängstigt sich um das Wohlergehen ihrer Kinder. Jede Abweichung von der alltäglichen Norm macht sie wahnsinnig. Die Hölle bricht los, als Edek seine Geliebte Zofia aus Polen nach New York holt. Die steigt gemeinsam mit ihrer Freundin Walentyna aus dem Flugzeug. Und die drei lebenslustigen Alten brauchen nicht lang, bis sie ein Projekt aus dem Boden stampfen: Sie wollen ein Restaurant eröffnen. Ein Restaurant, in dem es nichts außer „Klops“, polnischen Klößen, gibt. Ein humorvolles, lustiges Buch. Angesiedelt in der jüdischen Community New Yorks. Lesenswert!

Brief an D. Geschichte einer Liebe, André Gorz, btb 2009
gorzDie Nachricht von seinem Tod beherrschte Ende September 2007 alle Nachrichtenkanäle. Der französische Sozialphilosoph André Gorz, geboren in Österreich als Gerhard Horst und vor den Nazis geflohen, hatte sich gemeinsam mit seiner Frau Dorine das Leben genommen. Kurz zuvor war sein „Brief an D.“ erschienen. Ein Brief an seine betagte, schwer kranke Frau. Eine berührende Liebeserklärung nach knapp 60 gemeinsamen Jahren. Schon der Beginn dieses Textes ist schlicht wundervoll: „Bald wirst Du jetzt zweiundachtzig sein. Du bist um sechs Zentimeter kleiner geworden, Du wiegst nur noch fünfundvierzig Kilo, und noch immer bist Du schön, graziös und begehrenswert. Seit achtundfünfzig Jahren leben wir nun zusammen, und ich liebe Dich mehr denn je. Kürzlich habe ich mich von neuem in Dich verliebt, und wieder trage ich in meiner Brust diese zehrende Leere, die einzig die Wärme Deines Körpers an dem meinen auszufüllen vermag.“ Ein Buch, das wohl selbst bei Liebes-Skeptikern und notorischen Pessimisten ein Umdenken auszulösen vermag. Unglaublich stark und intensiv!

Abendland. Roman, Michael Köhlmeier, dtv 2009
koehlmeierEigentlich wird der Autor Michael Köhlmeier im Hause genussmousse ja überhaupt nicht geschätzt. Das hängt mit Texten aus den 1990er-Jahren zusammen, in denen er klassische Mythen nacherzählte. Der Tonfall war es, der der genussmousse-crew Köhlmeiers Erzählhaltung schier unerträglich machte: Krampfhaft um epische Breite bemüht, getragen, betulich erschien er uns, dieser Erzählgestus. Umso erstaunlicher die nun erfolgte Wieder- bzw. Neuentdeckung. Weil ein Bekannter immer wieder auf das Buch zurückkam, immer wieder davon sprach, siegte schließlich die Neugier und der Umschlag wurde beim nächsten Buchhandlungsbesuch widerstrebend doch geöffnet. Aus dem kurzen Hineinlesen wurde ein längeres Verweilen auf dem Buchhandlungssofa und schließlich ein – bis jetzt nicht bereuter – Kauf. Köhlmeier verwebt zwei Familiengeschichten: Die des hochbetagten Mathematikers und Jazzfans Carl Jacob Candoris (für den wohl der mittlerweile verstorbene Innsbrucker Mathematikprofessor Leopold Vietoris das Vorbild gab) und jene des Ich-Erzählers, Sebastian Lukasser. Scheinbar mühelos, beiläufig, gelingt Köhlmeier damit wahrlich ein Panorama des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. Inkontinenzprobleme alternder Männer nach Prostataoperationen in aller Ausführlichkeit dargelegt, inklusive. Dennoch: Ein Buch, das man, einmal aufgeschlagen, gar nicht mehr weglegen möchte.

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